Abandonware - Archive für vergessene Spiele (2024)

Im Englischen heißt “to abandon”: etwas aufgeben, vernachlässigen, verlassen. Die schnelllebige Software-Industrie hat sich aus dem Wort einen eigenen Begriff herausgeprägt: Abandonware, zu deutsch etwa “aufgegebene Produkte”. Davon gibt es reichlich. Weil Programme in regelmäßigen Zyklen aktualisiert werden (etwa Microsofts Windows) und der technologische Fortschritt die meiste Software schon nach wenigen Jahren überholt, fallen veraltete Produkte aus dem Markt, vor allem aber auch aus der Aufmerksamkeit der Hersteller. Dazu kommt eine unruhige Industrie, in der autonome Entwicklerfirmen von Großkonzernen geschluckt werden oder nach nur wenigen Titeln pleite gehen. All das hat zur Folge, dass es für die Käufer keine Support- oder Umtauschmaßnahmen mehr gibt. Die Software wird vernachlässigt, verlassen, aufgegeben – “to abandon”.

Bis in die 1990er Jahre hinein war das ärgerlich, denn waren eine Diskette oder eine CD defekt, blieb meist nur der Gang über den nächsten Flohmarkt, in der Hoffnung, sein Lieblingsspiel oder -programm noch einmal zu ergattern. Die Wende zeichnete sich ab 1997 ab, als Software-Piraten eine Originalkopie des Spielhallen-Klassikers Pacman zum kostenlosen Download ins Netz stellten. Bald rollte eine Welle von Nachahmungstätern an, die es sich zur Aufgabe machte, “vernachlässigte” Software zu retten, also verfügbar zu erhalten. Seit dieser Zeit floriert im Internet die Abandonware-Szene, auch und besonders für alte Spiele. Allerdings: Die Anbieter operieren in einer rechtlichen Grauzone.

Urheberrechtsvoraussetzungen Große Abandonware-Webseiten sind regelrechte Bibliotheken der Spielegeschichte: 1.086 klassische Spiele bietet zum Beispiel allein die Abandonware-Seite Abandonia.com nach aktueller Zählung an, 2.135 sind es beim Konkurrenten C-DOS Abandonware. Darunter finden sich Meilensteine der PC-Geschichte von Alone in the Dark bis Zak McKracken , von Sierra-Adventures über die Anfänge der Echtzeit-Strategie bis hin zu obskursten Kleintiteln und originellen, längst vergessenen Experimenten: Kramläden der Spielegeschichte, vollgestopft mit Krimskrams und Schätzen. Die meisten Programme lassen sich mit einem Mausklick herunterladen. Viele der wichtigsten Klassiker haben deren Hersteller aber für die Verbreitung sperren lassen.

Grundlegend gilt: Abandonware hoch- oder herunterzuladen, die vom Hersteller nicht explizit zur Verbreitung freigegeben wurde, ist kein Kavaliersdelikt. Oder um es mit den Worten von “Cold Hand”, dem Betreiber der französischen Abandonware-Seite Lost Treasures auszudrücken: “Um genau zu sein ist es völlig ungesetzlich.” Denn Software fällt unter das internationale Urheberrechtsgesetz, das die Werke bis zu siebzig Jahre nach dem Tode des Urhebers schützt (§ 64). Dazu zählen auch Mit-Urheber wie beispielsweise die Dialogautoren oder Komponisten – also jeder, der in irgend einer Form künstlerisch in das Werk involviert war. In der Praxis würde das bedeuten, dass man den Lebenslauf jedes einzelnen von Dutzenden Kreativpartnern bis zu seinem Ende verfolgen plus 70 Jahre hinzufügen müsste – ein irrwitziges, beinahe kafkaeskes Unterfangen. Viele Firmen schließen sich deshalb dem amerikanischen ESA-Verband an, der ihnen die gröbsten Rechtslasten abnimmt und quasi als Wachhund die Einhaltung des Urheberrechts prüft. Dazu gehört, dass ESA-Mitarbeiter Abandonware-Seiten abklappern und Downloads schließen lassen.

Ich spiele, also stehle ich? Viele, vor allem unabhängige Spiele- und Software-Hersteller tolerieren die kostenlose Verbreitung ihrer aufgegebenen Produkte, oder sie interessieren sich zumindest nicht dafür. “Die verbliebenen kleinen Hersteller, die sich tatsächlich noch mit ihren früheren Produkten identifizieren, führen keineswegs einen ›Krieg‹ gegen ihre Fans”, sagt Hannes Schüller, der die Retro-Seite goodolddays.net betreibt. “Ganz im Gegenteil: Man muss sich nur beispielsweise Revolution Software ansehen, die geben ihre eigenen alten Spiele offiziell frei. Andere tun dies nicht aktiv, haben aber auch nichts dagegen, wenn sie vertrieben werden. Das zeigt sich manchmal sogar in freundlichen E-Mails, in denen wir eben NICHT aufgefordert werden, Downloads zu entfernen.” Andere Erfahrungen hat Schüller dagegen mit den Branchenführern gemacht. “Die einzigen, die manchmal ein Problem mit Abandonware zu haben scheinen, sind die Firmen, die eine gesichtslose Größe erreicht haben.” An Gerüchten über knallharte Abmahnungen und angedrohte gerichtliche Strafverfahren ist trotzdem wenig dran. “Am Nähesten kommt dem wohl der im anglo-amerikanischen Rechtsraum so genannte ›Cease-and-desist letter‹. Solche Unterlassungsaufforderungen habe ich in unterschiedlich formeller Ausprägung ein paar Mal bekommen. Fast alles waren persönliche E-Mails, in denen das Deaktivieren einzelner Downloads gefordert oder erbeten wurde. Die Schärfe im Ton dieser Schreiben variierte stark.”

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Schwierige Suche nach Rechteinhabern Abandonware lebt also von der Duldung der Hersteller, da im besten Fall kein geldwerter Schaden mehr angerichtet werden kann: eine rechtliche Grauzone. In den meisten Fällen (geschätzte 80 Prozent) haben die Rechteinhaber ihre Spiele sogar den Abandonware-Betreibern gegenüber autorisiert. Eine solche Zusage kann freilich schnell wieder einkassiert werden. Seriöse Abandonware-Seiten sichern sich bis zu einem gewissen Grad und in regelmäßigen Abständen bei den Urhebern ab, sofern diese noch feststellbar sind. Das ist oft schwierig. Durch Fusionen oder Studioaufkäufe sind im Laufe der Zeit viele Rechte in die Schubladen neuer Geschäftspartner gewandert, schlummern dort einen Jahrhundert-Tod oder warten darauf, vielleicht irgendwann einmal wiederbelebt und für offizielle Fortsetzungen verbraten zu werden. Meist wissen die heutigen Rechteinhaber nicht einmal, dass sie Rechteinhaber sind, geschweige denn ist nachvollziehbar, wem die alten Spielerechte ursprünglich gehör(t)en. “Bei meinen Anfragen häufte sich im Laufe der Jahre ein Antwort-Typ”, erzählt Hannes Schüller, “sinngemäß: Was ist denn das für ein Spiel? Sind Sie sicher, dass das von uns ist?” Bei Virgin Interactive erinnerte sich beispielsweise kein Mensch mehr an Conflict: Middle East ; “und Electronic Arts war der Meinung Dune 2000 sei das erste Dune-Computerspiel.” Dass sich niemand zuständig fühlt, ist für Abandonware-Spieler im Alltag ein Vorteil – wo kein Kläger, da kein Richter. Trotzdem entbindet die Milde der Hersteller die Spieler nicht von Eigenverantwortung, wenn sie aus dem Netz Daten ziehen.

Classic-Editionen boomen wieder Ronny Otto, Herausgeber des Retro-Magazins Lotek64, führt den Gedankengang weiter: “Natürlich stellt sich die Frage, ob es nicht angebracht wäre, rechtliche Grundlagen für eine Entkriminalisierung der Verwendung solcher “vernachlässigter” Programme zu schaffen.” Seiner Erfahrung nach laufen in Einzelfällen immer mal wieder Klagedrohungen bei Privatpersonen ein, die ohne Gewinnabsicht im Internet Spiele tauschten, die seit über 20 Jahren nicht mehr zu kaufen sind. “Dahinter stecken aber nicht die Rechteinhaber, sondern geschäftstüchtige Anwälte, die mit Abmahnbriefen ein paar Euro extra verdienen.”

Eine gesetzliche Regelung für aufgegebene Software ist in naher Zukunft allerdings unwahrscheinlich. Zumal viele Hersteller dem Abandonware-Phänomen längst die Grundlage entziehen, indem sie Retro-Spiele wieder kommerzialisieren und in speziellen Classic-Editionen anbieten. Insbesondere auf den Konsolen boomen Download-Angebote wie Xbox 360 Live Arcade oder Playstation Network, über die Spiele-Klassiker neu verkauft werden. Parallel dazu steigt neuerdings das Interesse der Hersteller, ihre alten Goldesel wieder besser zu verteidigen. Denn offensichtlich lässt sich mit den goldenen Oldies immer noch Geld erwirtschaften. Auch der Boom der Gelegenheitsspiele, der neue Zielgruppen erschließt, verleitet einige Firmen dazu, ihre bewährte alte Ware neu aufzulegen. Wer Abandonware aus dem Internet herunterlädt, ohne das Spiel im Original zu besitzen, sollte sich deshalb zuvor vergewissern, ob das Spiel nicht doch in irgendeiner Form kommerziell vertrieben wird.

Achtung vor dubiosen Anbietern Und wie sieht es mit den Abandonware-Anbietern selbst aus? Die leben schließlich im Zweifelsfall nicht nur mit dem Kopf in der (Rechts-)Schlinge, sondern müssen ihre Seiten auch finanzieren. Während kleinere Angebote wie goodolddays.net Liebhaberprojekte sind und sich konsequent Werbung verweigern, stellt sich bei Seiten mit hohem Transfervolumen die Frage der Finanzierung. Die bekannte Seite Home of the Underdogs zum Beispiel, die sich als Non-Profit-Unternehmen ausweist, trägt sich über massive Werbung und Spenden. Abandonia.com , eine der populärsten Anlaufstellen im Netz, hat zusätzlich eine weitere Nebeneinnahme: einen Fanshop mit Abandonware-Produkten wie T-Shirts und Caps. Außerdem wird die Seite von einem Internet-Radiosender unterstützt. Im Schatten der Szene-Größen kriechen aber auch dubiose Anbieter. Die Seite free-game-downloads.mosw.com zum Beispiel, die sich unter der schlichten Überschrift “Game Downloads” verschanzt, lässt sich für jedes Spiel bezahlen und fragt dazu die Kreditkartendaten der Benutzer ab. Dabei betreibt sie nicht einmal einen eigenen Server, sondern leitet Kunden einfach auf die Downloads herkömmlicher Abandonware- und Shareware-Seiten weiter. Solche Art der Abzocke ist zwar selten geworden, aber sie existiert sporadisch immer noch – und scheint sich kurioserweise nach wie vor zu lohnen.

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Lebendige Geschichte Für alle, die auf Nummer Sicher gehen wollen, bleibt immer noch der Griff zu Freeware – also zu Spielen, die von ihren Herstellern offiziell zur Verbreitung freigegeben wurden. Darunter fallen bereits einige interessante Spiele, etwa Kult-Adventures wie Beneath a Steal Sky und alte Rollenspiele wie Betrayal at Krondor . Übrigens: Einige weitsichtige Entwickler der Spielebranche stellen sogar den offenen Quellcode ins Netz, um ihr Spiel damit der Allgemeinheit zu übergeben und so nachhaltig am Leben zu erhalten. Das bekannteste Beispiel ist der hierzulande indizierte Shooter Quake 3. Die eigentlichen Quellcodes der meisten Spiele sind jedoch für immer verloren – Game over. Als Archiv für vergessene Spiele haben Abandonware-Seiten somit nicht nur ihre Daseinsberechtigung, sondern sogar einen historischen Wert.

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